Donnerstag, 25. August 2011

8. nach Trinitatis, 14. August 2011


So ein Dachboden, liebe Gemeinde,
ist ein ungemein praktischer Platz im Haus.
Alles, was unmittelbar nicht mehr benötigt wird,
von dem man sich aber noch nicht trennen möchte,
findet hier eine Ruhestätte, die niemanden stört. Zunächst!
Manche Dachböden sind im Laufe der Jahre
zu regelrechten Mottenfängern verkommen,
andere haben sich durch die Zeiten hindurch
zu regelrechten Schatzkisten der Familiengeschichte entwickelt.
Aber, oh weh,
wenn einmal eine größere Renovierung ansteht.
Da steht man plötzlich vor einem riesigen Haufen
von Krimskrams.
Man fragt sich,
wieso die alten Stühle hier immer noch rum stehen.
Sollten die nicht schon vor drei Jahren zum Sperrmüll wandern?
Und hier, da sind ja auch die unzähligen Kisten
voller Schallplatten, die doch schon längst digitalisiert werden sollten –
direkt neben den zwei Schränken voller Dias,
die schon lange keiner mehr angesehen hat.
Ach, der alte Koffer, dass es den noch gibt.
Wo der schon überall gewesen ist.
Mittlerweile sieht er ein wenig zerfleddert aus.
Haben etwa Mäuse hier oben ihr Unwesen getrieben?
Ach, und warum steht hier denn der Garderobenschrank? 
Das war doch ein Geschenk, damals, Weihnachten 84.
Und die Kisten mit Garn, Knöpfen und Nadeln.
Seit Omas Tod hat die auch niemand mehr benutzt.

Ja, sich da durchzuwuseln und genau abwägen,
was muss bleiben, was kann weg, das fällt nicht so leicht. Aber manchmal muss es eben sein.
Man muss sich von Dingen trennen. Warum?
Damit Platz frei wird für neue Dinge,
für neue Schätze, die man ansammeln kann.

Zu Jesu Lebzeiten hatten die Häuser keine Dachböden,
so wie wir das kennen.
Die Häuser waren sehr klein,
sie bestanden oft nur aus einem einzigen Raum,
ca. 3,50 x 5,50 m groß.
Die Häuser hatten in der Regel nur ein Stockwerk,
kleine Fensteröffnungen im Mauerwerk aus Natursteinen. Das Dach bestand in der Regel aus schweren Holzbalken, die längs und quer übereinander gelegt wurden.
Darüber kam dann eine dicke Schicht eines Gemisches
von Lehm, Wasser, Kalk und pflanzlichem Häcksel-Schnitt.

Dieses Gemisch wurde auf den Holzbalken verteilt
und mit einer Steinwalze plattgewalzt.
Erst nachdem diese Dachpaste getrocknet war,
konnte man das Dach auch betreten.
Zu erreichen waren die Dächer über eine Holzleiter
oder eine kleine Steintreppe am Haus.

Oft waren mehrere dieser kleinen Häuser
zu einer Wohninsel zusammengefasst,
mit einem kleinen Hof in der Mitte.
In den Häusern selbst lebten sowohl die Familien
als auch ihre Tiere.
In so einer Kleinstsiedlung
hat sich heute ein besonderer Gast eingefunden.
Jesus, ein Zimmermann aus Nazareth
ist nach Kapernaum gekommen,
ganz in der Nähe des Genezareth-Sees liegt das.
Dort besucht er Freunde –
und dort erzählt er den Menschen vor allem von Gott.
Sein Ruf eilt ihm voraus. Die Leute hören im gerne zu.

Wenn Jesus etwas sagt,
dann erreichen seine Worte die Menschen gerade so,
als ob sie den Dachboden in ihrer Seele und ihrem Herzen entrümpeln würden
und Platz machen würden für neue Schätze,
die sie dort aufbewahren.
Das Wort Jesu tut den Menschen gut.

Was ist das für ein Wort?
Es sind heilsame und heilende Worte.
Es sind Worte, die eine gegenseitige Annahme ermöglichen und die einen Schlussstrich setzen wollen
unter die immer gleichen Durchhalteparolen
angesichts der Welt voller Armut,
Ungerechtigkeit, Hunger, Leid und Kriegen.
Kurz gesagt: Wenn Jesus spricht, dann redet er vom Leben.

Angesichts all dessen,
was wir unter dem Schatten des Todes wahrnehmen,
lässt Jesus das Licht des Lebens hell über uns leuchten.

Aber nicht nur wegen seiner heilsamen Worte
sind die Menschen in dieses Haus
in Kapernaum gekommen.
Sie haben Geschichten von ihm gehört,
schier unglaubliche Geschichten.
Unheilbar Kranke soll er wieder gesund werden lassen. 
Körperlich Behinderten gibt er
die volle Bewegungsfreiheit zurück.
Und Menschen,
die sowohl seelisch, geistig und geistlich angeknackst sind, 
stellt er wieder her.

Dass wollen auch die vier Freunde genauer sehen.
Sie haben einen bei sich, ihren Freund,
der kann nicht gehen.
Er liegt auf dem Bett, auf einer kleinen Trage.
Die Freunde wollen sehen, wie Jesus helfen kann.
Ist es wahr, was die Leute erzählen?
Doch sie sind nicht die einzigen, die zu ihm kommen.
Eine große Menschenmenge hat sich um Jesus geschart. 
Das Haus und der Hof vor dem Haus
platzen aus allen Nähten.
Was für eine Enttäuschung für die Freunde.
Sie hatten gehofft,
dass ihr Freund wieder gesund werden würde,
dass er genauso viel Freude am Leben haben könnte,
wie sie selbst.
Immerhin sehen sie ja jeden Tag,
wie es für ihren Freund ist.
Nichts kann er selbstständig tun.
Immer ist er darauf angewiesen,
dass Menschen um ihn herum sind,
die ihn umsorgen, sich um ihn kümmern.
Andere wären vielleicht
unverrichteter Dinge wieder umgekehrt,
zurück in den immer gleichen Alltag.
In ein Leben ohne Aussicht
auf eine hoffnungsvolle neue Perspektive.
Andere vielleicht – aber nicht diese vier.
Sie sehen sich ein wenig um.
Einer von ihnen hat eine Idee:
Lass es uns mal übers Dach probieren“, sagt einer.
Die anderen schauen ihn zuerst etwas skeptisch an.
Übers Dach?“ - aber dann verstehen sie.

Jesus ist im Haus. Dort spricht er.
Sie können ihn durch die offene Tür fast erkennen.
Aber der direkte Weg zu ihm ist versperrt.
Also finden sie einen anderen Weg zu ihm – oder?
Oder ist es vielleicht doch so, dass Jesus sich finden lässt?

Es ist immerhin nicht alltäglich,
dass, wenn einer einen Vortrag hält,
plötzlich die Decke abgehoben wird
und ein Mann in einem Bett liegend heruntergelassen wird, 
zu den Füßen des Redners.
Das muss ein ziemliches Durcheinander gewesen sein.

Man stelle sich das nur einen Moment lang mal
für das eigene Haus vor.
Oder man mag sich den Tumult ausmalen,
wenn plötzlich hier Leute auf die Idee kämen,
jemanden durchs Dach
in den Gottesdienstraum zu befördern.

Aber Jesus bleibt ganz ruhig –
er weiß die Situation sofort einzuschätzen
und sagt dann zu dem Gelähmten Mann auf der Trage: 
„Kind, deine Sünden sind dir vergeben.“

Markus erzählt, dass er diesen Satz sagt,
weil er den Glauben der vier Freunde sieht.
Sie haben sich nicht entmutigen lassen,
als es keinen direkten Weg zu Jesus gab.
Sie waren erfinderisch und haben ihr Ziel –
und ihren Glauben dabei nicht aus den Augen verloren.

Diese Einstellung erkennt Jesus an.
Darum sagt er zu dem Gelähmten:
Deine Sünden sind dir vergeben.“
Und auch das ist ein Wort des leuchtenden Lebens,
das von Jesus ausgeht.
Denn er sagt damit:
Alles was dich jemals in deinem Leben
von Gott getrennt hat – das ist jetzt vorbei.“

Aber – damit sorgt Jesus nun
für Verwirrung und Irritationen.
Da sind auch einige Schriftgelehrte.
Kluge Männer,
die die heiligen Texte lange studiert haben.
Sie sind Experten für den Inhalt
der Gesetze, der Propheten und der Schriften.
Und aufgrund dessen, was sie gelesen haben, wissen sie:
Sünden vergeben, dass kann nur Gott allein.
Dieser Jesus ist ein Gotteslästerer, sagen sie.

Aber auch die vier Freunde, oben auf dem Dach,
die dürften etwas sparsam geschaut haben,
als Jesus von der Sündenvergebung spricht.

Immerhin ist ihr Freund gelähmt, kann nicht gehen,
es ist mehr als offensichtlich, was er braucht:
Gesunde, bewegliche und lauffreudige Beine.
Wegen irgendwelcher Sünden sind sie nicht gekommen – oder?
Seltsamerweise steht darüber nichts im Markus-Text. Immerhin hätte er kurz schreiben können:
Die vier Männer wollten,
dass Jesus ihren Freund wieder gesund macht.
Es ist doch so offensichtlich.

Tja, womöglich steht gerade deshalb,
weil es so scheinbar offensichtlich ist,
gar nichts, was eigentlich das Ansinnen der Freunde ist.
Mal angenommen, diese Geschichte würde heute passieren. 
Wohin oder zu wem würden eigentlich
die vier Freunde gehen mit einem Gelähmten?
Zu einem Arzt vermutlich.
Zu einem Gefäßchirurgen,
einem Neurologen vielleicht,
einem Spezialisten für Wirbelerkrankungen.
Immer weiter würden sie suchen,
um jemanden zu finden,
der ihren Freund wieder gehen lassen kann.
Aber selbst heute,
in den Zeiten unserer fortgeschrittenen Medizin,
hätten die vier womöglich keinen Erfolg.
Sie würden von einem Arzt zum nächsten rennen und viel – 
sehr viel Zeit in Wartezimmern verbringen.

Doch – was braucht eigentlich der Mann auf dem Bett?
Was ist sein wichtigstes Bedürfnis?
Hat er sich vielleicht abgefunden mit seiner Behinderung – 
ja vielleicht ist ihm seine Einschränkung 
so selbstverständlich geworden,
dass er niemals auf die Idee käme,
ohne diese sogenannte Behinderung zu leben?
Klar, das ist natürlich nur theoretisch –
aber wer sind wir,
dass wir über andere Menschen
bestimmen und beurteilen wollen,
was die Qualität des Lebens ausmacht?
Oft genug wissen wir ja nicht einmal selbst,
was wir für uns wollen und brauchen.

Es könnte also sein,
dass es einen anderen Grund hat,
warum Markus nichts darüber schreibt,
was sich die vier wohl von Jesus erhoffen:
Ihnen reicht der Gedanke,
ihren Freund zu Jesus bringen zu können.
Was dieser Mann, der vor Jesus auf seiner Trage liegt, wirklich braucht,
das überlassen sie Jesus.
Sie befehlen ihm ihren Freund an,
hoffen auf Jesus –
denn sie glauben, dass er es wohl, also gut machen wird.

Und das macht ihren Glauben aus.
Nicht um jeden Preis selbst bestimmen zu wollen,
was das wichtigste für mich ist.
Stattdessen anzuerkennen,
dass es jemanden gibt, der es sicher weiß
und der es gut mit mir meint.

Es gab mal einen Waschmittel-Werbeslogan:
Was gut für mich ist, weiß ich selbst am Besten,
meinte da die selbstbewusste Waschmittelbenutzerin.
Und es ist ja auch richtig ein gesundes Gefühl
für die eigene Person und für die eigenen Bedürfnisse
zu entwickeln.
Aber was, wenn dieses Gefühl, dieser innere Lebensberater nicht mehr greift?
Gerade in kritischen Situationen,
wo die eigene Existenz bedroht
oder in Frage gestellt scheint –
tja, was ist denn dann gut für mich?

Wenn angesichts der schweren Krankheit,
die mich in windeseile dahinrafft,
mein ganzes Leben,
mein gesamtes Umfeld von mir weggerissen wird –
was soll da noch gut für mich sein?

In Extremsituationen ist es ein großer Trost zu wissen: 
Trotz allem, was mir passieren wird,
wie sehr sich mein Leben auch ändert –
und selbst wenn mein Leben zu Ende sein wird,
Gott lässt mich nicht allein.
Gott gibt meinem Leben Bestand
und er hält mich in seiner Hand, auf ewig.

Ich glaube, dass es nichts wertvolles gibt,
als das Gott sich niemals von uns trennen wird,
selbst wenn wir vom Leben selbst getrennt werden.
Genau das aber meint Jesus,
indem er zu dem Gelähmten Mann auf der Trage sagt –
und zu allen, die um ihn herum stehen:
Deine Sünden sind dir vergeben.
Du bist auf ewig mit Gott verbunden.
Nichts kann dich trennen von der Liebe Gottes.

Für diese heilsame und heilende Botschaft
vom liebenden Gott lässt sich Jesus gewissermaßen
sogar aufs Dach steigen.
Und die vier Freunde haben Glück:
Unter dem Dach des Hauses ist der Weg frei zu Jesus.
Sie müssen sich nicht erst
durch einen vollgerümpelten Dachboden graben. 
 
Jesus ist im Haus –
auf welchem Weg wohl
und durch welche Räume hindurch wohl
uns sein Wort erreicht?
Amen.