Sonntag, 2. September 2012

13. nach Trinitatis, 2. September 2012


Liebe Gemeinde.
Diese Geschichte von den ersten Geschwistern, die in der Bibel erzählt wird, endet tragisch. Das fürchterliche an der Geschichte ist auf der einen Seite die Gewalttat, die der Kain begeht. Aber das ist nicht das einzige, was die Geschichte so wenig aushaltbar macht. Sondern die Tatsache, dass die Geschichte im Grunde keine plausible Erklärung für ihren Hergang liefert, macht sie zu einer Herausforderung der unangenehmen Art.
Denn was ich nicht verstehe,was ich nicht erklären kann, macht mir immer ein bisschen mehr Angst, als die Dinge, die ich gut verstehe.
Und die Geschichte von Kain und Abel, diese Überlieferung des ersten Mords in der Bibel ist auch eine harte Geschichte, weil sie uns, jedem und jeder von uns gnadenlos einen Spiegel vorhält. Wieso das? Ganz einfach, weil beide, Abel und Kain in uns stecken.
Die beiden sind wie Stimmen, die ich in meinem Kopf höre. Ganz so wie die Band Fettes Brot das in ihrem Lied „Jein“ von 1996 beschreibt. In Situationen, in denen man sich für eine von zwei Handlungsmöchlichkeiten entscheiden soll, erscheint in einer Strophe einem der drei Sänger Engelchen und Teufelchen auf seinen Schultern und diese versuchen ihn durch Argumente auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Ein Kampf des Gewissens In dem Lied klingt das dann so:

Ich habe einen Freund – Ein guter? – Sozusagen mein bester, und ich habe ein Problem, ich steh auf seine Freundin. - Nicht auf seine Schwester? - Würd ich auf die Schwester steh'n, hätt' ich nicht das Problem, das wir haben, wenn er, sie und ich uns sehen. Kommt sie in den Raum, wird mir schwindelig. Sag ich, sie will nichts von mir, dann schwindel ich. Ich will sie, sie will mich, das weiß sie, das weiß ich. Nur mein bester Freund, der weiß es nich. [...] Es steigen einem die Tränen in die Augen, wenn man sieht, was mit mir passiert und was mit mir geschieht. Es erscheinen Engelchen und Teufelchen auf meiner Schulter,Engel links, Teufel rechts: "Lechz! Nimm dir die Frau, sie will es doch auch! Kannst du mir erklären, wozu man gute Freunde braucht?" "Halt, der will dich linken", schreit der Engel von der Linken, "weißt du nicht, dass sowas scheiße ist und Lügner stinken?" Und so streiten sich die beiden um mein Gewissen. Und ob ihr's glaubt oder nicht, mir geht es echt beschissen. Und während sich der Teufel und der Engel anschreien, entscheide ich mich für ja, nein, ich mein jein!

Während also in dem Lied der Sänger letztlich nicht zu einer Entscheidung kommt und ein offener Ausgang in dieser Situation des möglichen Fremdgehens das ganze etwas entschärft, haben wir es mit unserer biblischen Geschichte von Kain und Abel nicht so leicht.
Kain trifft eine eindeutige Entscheidung und tötet seinen Bruder. Seine Motive bleiben dunkel, selbst wenn sie einigermaßen zu benennen sind: Neid, das Gefühl, Unrecht erlitten zu haben, und der Wille, dieses scheinbare Unrecht auf eigene Faust wieder auszugleichen. Im Hintergrund stehen die beiden Opfer, die Kain und Abel Gott darbringen. Kain opfert Gott etwas von seiner Getreideernte, während Abel ein oder zwei Tiere aus seiner Schafherde opfert. Die beiden machen das, um Gott für die Ernte und das Wachsenlassen der Tiere zu danken. Im Grunde feiern beide Brüder so etwas wie ein Erntedankfest. Nur – und das ist das unerklärliche an der Geschichte: Gott freut sich über das Opfer von Abel, aber über das Opfer von Kain freut er sich nicht. Und zwar in einer Weise, dass beide – vor allem Kain – das mitbekommen. Unzählige Versuche sind in der Theologiegeschichte unternommen worden, um zu erklären, wie es dazu kommen konnte. Wollte Gott Kain etwa testen oder in Versuchung führen? Hat Kain etwa sein Opfer nicht ernst gemeint?
Aber alle Erklärungen müssen letztlich ins Leere laufen, denn der biblische Text schweigt an dieser Stelle – leider! Und somit verkommen alle Erklärungen letztlich nur zu einem Versuch der Menschen, das unerklärliche Göttliche verstehen zu wollen.
Dass das aber nicht funktioniert, haben schon die Eltern von Kain und Abel gemerkt. Adam und Eva, die ersten Menschen, wollten so sein wie Gott - wollten ihn ganz und gar verstehen, und mussten letztlich erkennen, dass ihr Leben durch diesen Versuch wesentlich schlechter und anstrengender geworden ist. Und während sich die Eltern Adam und Eva ein vertikales Vergehen leisten - indem sie sich gegen Gott im Himmel auflehnen, ist das zweite Vergehen der Menschheitsgeschichte ein horizontales, also innerhalb der Menschen.
 
Die Motive Gottes, warum er das eine Opfer freundlich ansieht, das andere aber ausschlägt, die bleiben im Dunkeln. Aber, im Laufe der Geschichte wendet sich Gott noch zweimal helfend an Kain. Zuerst als Gott merkt, was sich da in Kains Gedanken zusammenbrodelt, da ruft er Kain und bittet ihn eindringlich, Herr über seine Gedanken und Taten zu bleiben und sich nicht von der Sünde leiten zu lassen. Und dann ein zweites Mal, als Abel getötet ist und Gott Kain zur Rede stellt. Zunächst bekommt er eine Strafe. Aber Kain sieht ein, dass er etwas fürchterliches getan hat und hat nun Angst vor der Selbstjsutiz anderer Menschen. Da versieht Gott Kain mit einem schützenden Zeichen. Das heißt, Kain hat tatsächlich so etwas wie Täterschutz von Gott zu erwarten. 
Das finde ich beeindruckend – und macht nocheinmal deutlich, wie anders Gottes Gedanken und Urteile sind, als allzu menschliche Urteile. Nach gewöhnlichem, menschlichem Rechts- und Unrechtsempfinden ist doch der Kain selbst Schuld.
Wenn so eine Tat heute passiert, kann man sicher sein, dass irgendwo dumme Menschen auch wieder zu Selbstjustiz und zu drakonischen Strafen aufrufen. So soll die US-amerikanische Pop-Sängerin Britney Spears einmal gesagt haben: "Ich bin für die Todesstrafe. Wer schreckliche Dinge getan hat, muss eine angemessene Strafe bekommen. So lernt er seine Lektion für das nächste Mal."
 
Nicht zuletzt der Geschichte von Kain und Abel ist es zu verdanken, dass es in unserer Rechtssprechung auch so etwas wie Täterschutz gibt. Auch wenn das in vielen Situationen unaushaltbar schwierig ist. Wer will schon einem Psycho-Killer wie dem Schweden Anders Breivik einen besonderen Schutz gewähren. Werden damit nicht auch immer die Opfer und ihre Familien und Freunde verhöhnt? Wer sorgt sich um ihre Bedürfnisse? Wie kommen die mit ihren nachvollziehbaren Rachegelüsten zurecht? Wie sollen sie es schaffen, dass sie nicht selbst wie Kain enden?
 
Die Frage, die viele Menschen bei der Geschichte des Brudermordes umtreibt, ist die Frage:
Woher kommt das Böse? Das Böse in der Welt und in mir? Moderne Wissenschaften geben keine letztgültige Erklärung: Liegt es psychologisch gesprochen an der Prägung eines Menschen? Was der Mensch von Kind auf gelernt und gesehen hat, wie er erzogen worden ist, wie die Gesellschaft mit Recht und Unrecht umgeht, bringt das einen Menschen zum Bösen? Oder liegt es etwa in seinem genetischen Bauplan? Sind bestimmte DNS-Sequenzen etwa dafür verantwortlich, dass manche Menschen das Böse ausleben? Wie gesagt: eine eindeutige Erklärung gibt es von den empirischen Naturwissenschaften nicht.
Aber auch die Theologie kann hier keine eindeutige Antwort geben. Meines Erachtens hat der Kirchenvater Augustin im 5. Jahrhundert ganz treffend und auch heute noch gültig über das Böse geschrieben und gelehrt, dass es sich weder erforschen lässt, wo es denn genau herkommt, noch, dass das Böse überhaupt in irgendeiner Form eine besondere Gestalt, Materie oder Substanz hat.
Das Böse, so sagt Augustin, ist schlicht die Abwesenheit von Gutem. Alles, was in Gottes guter Schöpfung an Bösem passiert, ist dann so eine Art Aushölung des Guten. Das Böse schmarotzt am Guten, wenn man so will.
Menschen sind als Gottes Geschöpfe auch GUT. Sie haben auch das Gute in sich. Aber sie haben eben auch die Fähigkeit, das GUTE zu verneinen. Dadurch verkehrt sich das Ganze dann ins Gegenteil. Dieses Loch, dieses Fehlen vom Guten, ist dann das Böse im Menschen.
Wann immer Menschen sich in dieses Loch stürzen und das Gute verneinen, dann nennt die Bibel das Sünde.
Manche Christen kommen bei der Geschichte von Kain und Abel zu folgendem Schluss: Beides, das Gute und das Böse, Abel und Kain, stecken in dir. Du musst dich letztlich entscheiden, wie du handelst. Lebst du wie Abel oder lebst du wie Kain? Bist du gut oder bist du böse?
 
Aber – Auf der einen Seite steht dann die Frage: Muss ich allen Ernstes erst zum Opfer werden, um ein guter Mensch zu sein? Das ist eine durch und durch zynisch klingende Aussage für alle Menschen, die in irgendeiner Form Opfer geworden sind – einer Wirtschaftskrise, oder von staatlichen Repressalien, oder gar eines Gewaltverbrechens.
Aber damit nicht genug. Aus theologischer Sicht, ist die Lösung, sich einfach für das Gute zu entscheiden, nur ein Trugschluss.
Denn diese scheinbare Lösung macht gar nicht damit ernst,
dass das Böse wie ein Loch in den Menschen steckt. Wie ein schwarzes Loch im Weltall hat es so eine große innere Anziehungskraft, dass Menschen immer wieder gar nicht anders können, als da hineinzufallen.
Und selbst wenn Gott in unserem Predigttext zu Kain sagt: Lass dich nicht von der Sünde beherrschen, sondern beherrsche die Sünde - ich glaube, dass es nur bei dem Versuch bleiben kann.
Aber Menschen, die meinen, dabei Erfolg zu haben, ausschließlich Gute Menschen zu sein, frei von Sünde zu sein, eine funktionierende und uneingeschränkte Gottesbeziehung zu haben, für diese Menschen macht alles Reden von Erlösung durch Jesus Christus, macht die Rede von der Gnade Gottes nun überhaupt keinen Sinn mehr! Wer glaubt, die Sünde und das Böse vollkommen überwunden zu haben, wird stärker denn je davon beherrscht
 
Auf der anderen Seite MUSS es dann aber auch so einen Versuch geben, das Böse überwinden zu wollen: Wer sagt, naja, ich habe das Böse also in mir, da kann ich ja eh nichts machen, der gibt sich und seine Umwelt auf und gibt sich ganz dem Bösen hin. Gott bewahre uns vor solchen Menschen! 
Eindrucksvoll und zugleich abschreckend kann man so ein Verhalten in der klugen US-amerikanischen Serie „Breaking Bad“ - also das ausbrechende Böse – beobachten. In dieser Serie geht es um einen zunächst unscheinbaren Chemiker, bei dem Lungenkrebs festgestellt wird. Er beschließt, Drogen herzustellen, um seine Familie durch die Einnahmen finanziell abzusichern. Doch nach und nach, zunächst schleichend, dann immer brachialer, ist er immer mehr im Netz von Kriminalität und brutaler Gewalt verstrickt und findet Gefallen daran. Das Böse bricht aus, Breaking Bad.
 
In der Frage nach brutaler Gewalt und vom Töten, lehrt der Heidelberger Katechismus – wir haben die entsprechenden Fragen (105-107) vorhin gehört – dass es sich dabei nicht nur um ein passives Nicht-Tun handelt, sondern fordert dazu auf:
Aktiv das Gute für den Nächsten zu suchen und zu tun. Und damit geht der Katechismus ganz in die Nähe von der Geschichte des barmherzigen Samariters, die Jesus erzählt. Der Samariter hätte, wenn er an dem verletzten Mann vorbeigegangen wäre, den Mann ja nicht aktiv getötet. Er hätte sich einfach nur nicht eingemischt.
 
Und da sagt Jesus – und dann viel später auch der Heidelberger Katechismus in der Auslegung der 10 Gebote: Falsch! Du sollst nicht töten heißt: Greif aktiv und helfend in das Geschehen ein. Für uns stellt sich damit die Frage, wie wir jeden Tag andere Menschen nicht töten, indem wir aktiv in ihr Geschehen eingreifen.
 
Ostfriesen pflegen ja überwiegend eine ganz besondere Beziehung zu ihren Gärten. Für viele ist es eine Freude, darin Blumen und Gemüse anzubauen, die Gewächse zu hegen und zu pflegen und vor allem auch eine gewisse, manchmal etwas... strikte Ordnung zu halten. Viele Menschen, die alt und gebrechlich werden, sagen mir, dass nicht die Schmerzen als solche, nicht die fortschreitende Bewegungsunfähigkeit als solche so schlimm ist - sondern die Tatsache, dass sie nicht mehr im Garten arbeiten können. Nun könnte man ja sagen, ist ja nicht so schlimm, wo ist das Problem? Gibt es denn nicht noch andere schöne Dinge? Aber dann sind da eben auch die Nachbarn, oder zufällige Besucher, die vorbeikommen wie der Priester oder der Levit in der Geschichte vom barmherzigen Samariter: Denen fällt natürlich gleich auf, wie der Garten aussieht, und dass der strengen Ordnung ein heilloses Durcheinander gewichen ist. Die zufällig vorbeikommenden Besucher oder die Nachbarn, kommentieren das manchmal:
„Ochhör, mien leev, du kannst ja ock neit mehr so, as du wohl wullt, neij? Din Tuun is ja nu ock nix mehr!“ [Ach, Liebes, du kannst auch nicht mehr, wie du wohl willst, was? Dein Garten macht ja auch nichts mehr her.]
Und egal, ob sie das aus reiner Gedankenlosigkeit sagen oder mit einer gewissen Boshaftigkeit oder sogar Genugtuung: Können Sie sich vorstellen, wie sehr das den Menschen, die nicht mehr im Garten arbeiten können, ins Herz sticht? Im Grunde ist das genau das, was der Priester und der Levit in der Geschichte vom barmherzigen Samariter machen: Vorbeigehen und das Opfer noch verhöhnen.
 
Es gibt ganz vielfältige Dinge, bei denen wir Menschen jeden Tag unseren Nächsten dabei helfen können, nicht getötet zu werden, sondern im Namen der christlichen Nächstenliebe aktiv für eine Linderung von Schmerzen, Ängsten und Demütigungen beitragen können und sollen. Abel hätte einen solchen Samariter brauchen können. Genauso wie Kain.
 
Am Anfang habe ich gesagt: Die Geschichte von Kain und Abel hält uns gandenlos einen Spiegel vor, weil beide auch immer in uns stecken. Gutes und auch Böses. Aber mit dieser etwas ernüchternden Erkenntnis will ich hier nicht aufhören. Das Böse wegreden, geht nicht. Menschen so auf das Gute in sich zu beschwören, dass sie das Böse abstoßen, geht auch nicht.
Gott sei dank gibt es aber Gnade, die wir nicht aus uns selbst heraus holen. Der Blick auf Jesus Christus hilft uns. Jesus ist der Gnadenspiegel, in dem wir mit dem Bösen in uns in einem anderen Licht scheinen. Allein aus der Gnade Gottes sind wir erlöste Menschen, denen das Böse nicht mehr ein Verhängnis bleibt.
Paulus schreibt dazu im 1. Korintherbrief: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.
Amen

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